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Gravyer, ein Käse aus den Hochebenen der nordostanatolischen Provinz Kars, ist türkischen Käsekennern seit Jahren ein Begriff. Viel Fantasie braucht es dabei nicht, um den Ursprung des Namens „Gravyer“ mit dem berühmten Hartkäse „Gruyère“ in Verbindung zu bringen. Wie aber kommt, bitte schön, eine türkische Version dieser durch und durch schweizerischen Käsesorte in den hinterletzten Winkel Anatoliens, nicht weit von der Grenze nach Georgien und Armenien? Um das herauszufinden, haben mein Partner, der Fotograf Ömer Doğan, und ich die ca. 2.000 Kilometer von unserem Wohnort Bodrum an der Ägäisküste bis nach Kars zurückgelegt und eine erstaunliche Geschichte mitgebracht…
Das Wunder von Bogatepe
Unser Ziel heißt Boğatepe, ein Dorf 40 Kilometer nördlich von Kars. Ähnlich wie die Schweizer Hochalmen liegt es auf etwa 2.300 Metern Höhe – im Gegensatz zu den Alpen gibt es hier allerdings keine schneebedeckten Gipfel: soweit das Auge reicht, nur sanfte Hügel und saftige Weiden. In Boğatepe befindet sich mit derzeit 7 Käsereien und über 4000 Kühen das Zentrum der türkischen Gravyer-Produktion.Schweizer Käse – oder doch nicht?
Mit seiner gelben Farbe und den großen Löchern erinnert der Gravyer eher an Emmentaler Käse, nur der Geschmack ist würziger und ein wenig salziger – aber auch nicht so wie ein Gruyère… Es ist jedenfalls ein hervorragender Käse mit ganz eigenem Charakter.Die wechselvolle Geschichte
Vierzig Jahre lang, von 1878 bis 1918, gehörte die Region um Kars zum russischen Zarenreich. Viele osmanische Untertanen verließen in dieser Zeit die Provinz, dafür wurde ein buntes Gemisch aus Armeniern, Griechen, Georgiern, Russen und Molokanen angesiedelt. Die in Russland wegen ihres Widerstandes gegen die orthodoxe Kirche unbeliebten Molokanen gründeten unterhalb des heutigen Boğatepe mehrere Dörfer und betrieben auf der Hochebene im Sommer Vieh- und Milchwirtschaft. Ihre Molkereien nannten sie “Zavot”, was auf russisch so viel wie “Fabrik” bedeutet. Bis zu seiner Umbenennung vor einigen Jahren hieß auch Boğatepe “Zavot”.Erstklassige Zutaten für ein erstklassiges Produkt
Donnerwetter – was für eine Geschichte! Ich schaue mir den hünenhaften Unternehmer noch einmal genau an, kann aber keine Züge erkennen, die auf eine deutsche Großmutter hinweisen würden… İlhan nimmt uns nun mit, damit wir mit eigenen Augen sehen, wie in seiner Molkerei Gravyer hergestellt wird. Es ist Ende August – die Blüte der alpinen Blumen und Kräuter ist fast vorbei und die Milchmenge der „Zavot“-Kühe, die übrigens den braunen Schweizer Alpenmilchkühen zum Verwechseln ähnlich sehen, hat bereits erheblich abgenommen. Im Gegensatz zur Hochsaison im Juni, wo täglich bis zu sieben Käselaibe à 70 kg produziert werden können, reicht die Milch jetzt noch für 4-5 Laibe (für einen Laib werden fast 1000 Liter gebraucht). Die Arbeitszeiten (morgens von 8 bis 14 Uhr, abends von 19 Uhr bis Mitternacht) sind genau auf den Melkrhythmus abgestimmt. Die Verarbeitung muss beginnen, bevor die Milch kalt wird. Daher ist das Abholen der frisch gemolkenen Morgen- und Abendmilch wie ein Wettlauf gegen die Zeit. Gravyer kann nur im Sommer produziert werden – Grund dafür sind verschiedene Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, etwa die Außentemperatur, der Fettgehalt der Milch oder die in der Milch enthaltenen Bakterien, die während des Fermentierungsprozesses die Löcher erzeugen.Zwischen Tradition und Moderne
Koçulus ‘Zavot’ ist eine moderne, weiß geflieste, blitzblanke Halle. Über Rohre wird die Milch in zwei riesige kupferne Kessel gepumpt, die nicht mehr, wie früher einmal, von unten mit Feuer beheizt werden. Die Kesselwand ist doppelschichtig, so dass über die Zugabe von kaltem Wasser und heißem Dampf die Temperatur genau justiert werden kann.Ich frage İlhan, ob er daran denkt, die Produktion weiter zu modernisieren. Darauf gibt er eine bemerkenswerte Antwort: „Natürlich könnte ich in modernere Maschinen investieren. Die Ausgabe hätte sich bereits nach einer Saison ausgezahlt. Aber es geht mir ja gar nicht in erster Linie um die Rentabilität. Ich möchte diesen jungen Menschen aus meinem Dorf Arbeit geben. Sie sollen die Kunst des Käsemachens lernen. Wenn sie nach einigen Jahren dann ihre eigenen Molkereien gründen, habe ich mein Ziel erreicht.“
Ach, İlhan Koçulu – gäbe es doch bloß mehr Menschen von Ihrer Sorte…
Murmelz Tipp
Gravyer aus Boğatepe wird wegen der strengen Vorschriften für Lebensmittelimporte (noch) nicht in die EU exportiert. Da die Nachfrage auf dem Binnenmarkt – besonders seit der Unterstützung durch Slow Food – das Angebot weit übersteigt, ist auch in den kommenden Jahren nicht damit zu rechnen. In der Türkei ist Gravyer aus Boğatepe auf den Käsetellern vieler Luxusrestaurants und -hotels zu finden, außerdem in einigen Feinkostläden in allen türkischen Großstädten. Die Molkereien haben im Zentrum der sehr sehenswerten Provinzhauptstadt Kars ihre eigenen Käsegeschäfte. Bestellungen direkt bei der Molkerei werden per WhatsApp angenommen und in die gesamte Türkei verschickt.
Koçulu produziert neben Gravyer auch frischen und gereiften Kaschar und ‘Molokan’, einen milden, Gouda-ähnlichen Hartkäse.
Ein Film von Annette Hanisch & Ömer Dogan
Alle Infos zur Molkerei Koçulu
Bestellungen über WhatsApp: +90 554 1813036
Email: info@koculupeynircilik.com