Die wundersame Wandlung einer Stadt
Hätte mir jemand 2007 nach meinem ersten Besuch in Urfa gesagt, dass die zurückgebliebene Provinzhauptstadt 50 km nördlich der syrischen Grenze zu meinem absoluten Reisefavoriten in der Türkei werden würde, hätte ich ihn nur verständnislos angeschaut. Wie hätte die religiös-konservative, unerträglich heiße Stadt, in der man noch nicht mal ein kühles Bier findet, zu meinem Lieblingsziel avancieren können? Doch jetzt erkläre ich Urfa hiermit zu meiner persönlichen türkischen Kulturhauptstadt! Und allen, die sich für Menschheitsgeschichte, Mythen und Legenden, scharfe Küche und exotische Basare interessieren, sei ein Besuch dieser altehrwürdigen Stadt im nördlichen Mesopotamien empfohlen – verbunden mit einem Aufenthalt in einem der historischen Konaks – traditionellen Herrenhäusern, die zu charmanten Boutique-Hotels umfunktioniert worden sind…
Der Wiederaufstieg von Şanlıurfa – „heldenhaftes Urfa“ – , wie die Stadt in Erinnerung an ihren Widerstand gegen die französische Besatzung nach dem ersten Weltkrieg offiziell heißt, begann bereits in den 90er-Jahren, als die türkische Regierung der von Separatistenterrorismus und Wasserknappheit geplagten Region ein riesiges Förderprojekt schenkte: Mehrere Staudämme am Euphrat sollten Landwirtschaft im großen Stil ermöglichen und die damit verbundene Stromerzeugung die Industrialisierung ankurbeln. Vom größten dieser Talsperren-Projekte, dem Atatürk-Staudamm, hat Urfa in besonderem Maße profitiert. Auf den versteppten Anbauflächen der Harran-Ebene im Norden des sogenannten „Fruchtbaren Halbmonds“ werden dank Euphrat-Wasser wieder Weizen, Mais und Baumwolle angebaut.
Als “Stadt der Propheten“ genießt Urfa in der muslimischen Welt seit Jahrhunderten den Status einer Pilgerstätte. Es wird überliefert, dass Abraham (Ibrahim), den auch Muslime als ihren Stammvater ansehen, hier in einer Höhle geboren wurde. Der Legende nach ließ König Nimrod (Nemrut) Abraham, weil er den Glauben an einen einzigen Gott propagierte, von den beiden Säulen, die heute noch auf dem steilen Burgfelsen stehen, in die Tiefe stoßen, wo er in Flammen verenden sollte.
Doch Gott sorgte dafür, dass das Feuer sich in Wasser verwandelte, die Holzscheite in Fische, und dass Abrahams Leben gerettet wurde.
Balıklıgöl – so der Name der Teiche mit den heiligen Karpfen, die Pilger heutzutage mit Fischfutter füttern, aber keinesfalls angeln dürfen – mitsamt umgebenden Parkanlagen und Cafés und einem Komplex aus Moscheen, ehemaligen Derwischklöstern und Medresen (Koranschulen), zieht seit Jahrhunderten fromme Besucher in die Stadt.
Aber erst eine archäologische Entdeckung in den 90er-Jahren brachte Urfa weltweite Aufmerksamkeit. Der deutsche Archäologe Klaus Schmidt stieß 1994 unweit von Urfa, auf einem kargen Höhenzug namens Göbeklitepe, auf Fragmente von T-förmigen Pfeilern, wie er sie bereits aus anderen steinzeitlichen Grabungen in der Gegend kannte. Er erhielt zusammen mit türkischen Teams eine Grabungserlaubnis und förderte Dinge zutage, die unser Verständnis von der Entwicklung der Menschheit komplett verändert haben: in mehreren Kreisen angeordnete, tonnenschwere, bis zu 7 Meter hohe und mit Reliefs von Tieren und stilisierten Menschen verzierte Stelen, geschätztes Alter zwischen 10.000 und 12.000 Jahren. 7500 Jahre älter als die Pyramiden von Gizeh, 8500 Jahre älter als Stonehenge.
Die gigantischen Pfeiler entstanden in einer Zeit, als Menschen noch in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler ihr Leben fristeten, als es noch keine Keramik und keine Metallwerkzeuge gab. Noch keine Siedlungen und weder Ackerbau noch Viehzucht. Schmidt geht davon aus, dass es sich um Kultstätten handelt, die zu bestimmten Anlässen aufgesucht wurden, um Tote, Götter oder Geister zu ehren. Hunderte von Arbeitern, eine straffe arbeitsteilige Organisation und eine leistungsfähige Logistik waren nötig, um mit den damaligen Mitteln solch monumentale Anlagen zu errichten.
Was für Gesellschaften waren am Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit in der Lage, Stätten wie Göbeklitepe zu bauen? Waren sie bereits sesshaft und betrieben primitive Landwirtschaft? Was war der Grund, warum sie übermenschliche Anstrengungen auf sich nahmen, um gemeinsam solch monumentale Bauten zu errichten? Über diese Fragen wird in Fachkreisen nach wie vor gerätselt. Altertumsforscher und Archäologen aus aller Welt machen sich auf die Reise in die Südosttürkei, um die neolithischen Stätten vor Ort zu studieren. Denn inzwischen weiß man, dass Göbeklitepe kein Einzelfall ist – im Umkreis von Urfa wurden etwa ein Dutzend weitere jungsteinzeitliche Stätten entdeckt und mit ihrer Ausgrabung begonnen.
Wenn ich mich von meiner Nase und gutem Appetit leiten lasse, lande ich unfehlbar vor einer Lahmacun-Bäckerei, wo man mir einen der im Holzofen gebackenen hauchdünnen, mit Hackfleisch, Petersilie und scharfem Paprika belegten Teigfladen in die Hand drückt. Frische Tomaten, Rukola und Petersilie drauflegen, Zitronensaft drüberträufeln, zu einer Rolle wickeln – fertig ist der Orient-Snack! – und schon lasse ich mich weiter durch den Basar treiben… Wenn mich mein Weg über den Haşimiye-Platz führt, lasse ich mich schon mal auf einem der niedrigen kreuzbeinigen Hocker in einem der traditionellen Straßenrestaurants nieder, beobachte das exotische Gewimmel um mich herum und lasse mir frisch gegrillte, mit Kreuzkümmel gewürzte Leberspießchen servieren. Danach im nahen Gümrükhan noch eine Portion kadayıf – mit Zuckersirup und gehackten Pistazien auf dem Feuer gebackenes “Engelshaar” – lecker!!!
Gut gegessen hat man in dieser Stadt schon immer, aber Vorsicht: in Urfa isst man scharf! Die roten Urfa-Paprikas sehen harmlos aus, aber ihr Verzehr kann einem unbedarften Mitteleuropäer Tränen in die Augen treiben…
Göbeklitepe Gastronomi Merkezi
Adresse: Karşıyaka, Gap Bulvarı, 63100 Haliliye/Şanlıurfa
Tel: +90 414 314 7477
# gobeklitepegm
geöffnet täglich von 8 – 22 Uhr
Das Boutique-Hotel liegt im Stadtteil Yeni Mahalle (neues Viertel) – dem denkbar unzutreffendsten Namen für ein Gebiet, das vermutlich seit etwa 12.000 Jahren durchgehend von Menschen besiedelt wurde. Keine fünf Gehminuten vom Hotel entfernt, nur wenig oberhalb des Balıklıgöl-Komplexes wurde nämlich eine neolithische Statue gefunden, die erste bekannte Menschendarstellung in Originalgröße, die jetzt einen eigenen Saal im Eingangsbereich des Archäologischen Museums hat. Außerdem befand sich in diesem Viertel die Akropolis der in der Antike als Edessa bekannten Stadt.
Ein gemütlicher Restaurantraum über der Lobby ist die Alternative für kühlere Tage. Hier kann man sich auch ein Gläschen Wein oder Bier servieren lassen – ein Luxus, der in der Stadt des Propheten nicht selbstverständlich ist! Für Gruppen, die private Atmosphäre dem Rummel in den großen Restaurants vorziehen, wird auf Vorbestellung auch gekocht.
Ein Höhepunkt des Astarte – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – ist der Blick von der Dachterrasse! Auch wenn es nur zwei Stockwerke hoch ist: die erhöhte Lage auf dem ehemaligen Akropolishügel gewährt ein faszinierendes Panorama über die Altstadt, den Uhrenturm der Ulu Camii und den steilen Burgberg hinter Balıklıgöl mit den beiden berühmten Säulen.
Wer das Glück hat, Ibrahim als archäologischem Stadtführer zu erleben (auf Türkisch oder Englisch), wird diese Stunden vermutlich sein Lebtag nicht vergessen! So viel Wissen, und so begeistert vorgetragen!
Astarte Hotel
Adresse:
Yeni Mah. Vali Fuat Cd. Nr: 105 63210 Eyyübiye/Şanlıurfa
Tel: +90 507 687 1120
Kebap-Spezialitäten in Birecik
Auf unserer Weiterreise in Richtung Westen kommen wir durch Birecik, der Stadt an der jahrhundertelang umkämpften Furt durch den Euphrat, die unzählige Male den Besitzer wechselte. Perser, Römer, Sassaniden, Araber auf ihrem Siegeszug zur Verbreitung des Islam, Kreuzritter – sie alle wollten den wichtigen Knotenpunkt kontrollieren! Heutzutage bildet der Euphrat nur noch die Grenze zwischen den Provinzen Şanlıurfa und Gaziantep und die letzte bewaffnete Auseinandersetzung war in den 1950er Jahren der Kampf der Fährschiffer, die glaubten, sie hätten eine Chance zu überleben, als sie einen der Brückenbauingenieure erschossen. Eine gescheiterte Schlacht, wie heute jeder sehen kann, der über die Euphratbrückefährt…
Cevdet Usta Restaurant
(alle drei Filialen liegen in einem Umkreis von ca. 200 Metern)
Adresse: Merkez mahallesi belediye caddesi iskele çarşısı no 24, 63400 Birecik/Şanlıurfa
Telefon: +90 532 774 6698