Inhaltsverzeichnis Hide
Auf einer Terrasse am Südhang der Hacı Muhammet-Berge, einem nördlichen Ausläufer des östlichen Taurusgebirges, liegt – sehr idyllisch, aber ziemlich weitab vom Schuss – das Städtchen Tut. Mit seinen gerade mal 3200 Einwohnern ist es einer der kleinsten Landkreise der Türkei.
Hidden Gem
Nicht überall in der Türkei genießen Maulbeeren die gleiche respektvolle Behandlung wie in Tut: in meinem Wohnort Bodrum im Westen der Türkei zum Beispiel fallen die unscheinbaren Beeren meist unbeachtet herunter und verrotten auf dem Boden oder werden zertreten. Da sie in reifem Zustand nicht länger als einen Tag haltbar sind, lohnt sich der Verkauf nicht, zumal man Maulbeeren eigentlich nicht pflücken kann. Allenfalls herunterschütteln ist möglich, aber da die Früchte nicht gleichzeitig reif werden, sondern sich der Reifungsprozess über mehrere Wochen hinzieht, ist der kommerzielle Wert der Maulbeeren heutzutage sehr begrenzt.
Revival der Super-Beeren
Einer von ihnen, Kadir Dursun, fand zwar auch in der Schweiz nicht sein Glück, dafür aber in der Westtürkei, wo er zu einem erfolgreichen Konzert- und Festivalveranstalter wurde und über zwanzig Jahre als Manager des bekannten Pianisten Fazıl Say agierte. Ausgestattet mit einem kleinen Vermögen und – was noch wichtiger war – mit dem erweiterten Horizont dessen, der über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut hat, kehrte er 2008 als Investor in seinen Heimatort zurück, um das wiederzubeleben, wofür Tut einst berühmt war: den Anbau erstklassiger Maulbeeren.
Maulbeeren-Produkte
Denn auch wenn der Wirtschaftswert der frischen Früchte gegen Null tendiert, kennt man seit Jahrhunderten Möglichkeiten der Haltbarmachung, mit denen sich ein Mehrwert erwirtschaften lässt. Am einfachsten ist es, die reifen Beeren an der Luft zu trocknen. Das dauert in den trockenen, warmen Sommern im südöstlichen Anatolien gerade mal drei Tage – ganz ohne Behandlung oder chemische Zusätze. Die älteren Bewohner von Tut können sich gut daran erinnern, dass ihre Mütter ihnen statt einem Frühstücksbrot eine Handvoll getrockneter Maulbeeren für die Schulpause in die Taschen steckten. Man kann die Beeren aber auch pressen und ihren Saft zu Sirup kochen.
Vielen Lesern aus dem mitteleuropäischen Raum sind Maulbeeren gar kein Begriff. Man kennt den Maulbeerbaum vor allem wegen der Blätter, der einzigen Nahrung von Seidenraupen. Kaum verwunderlich, dass der Maulbeerbaum, der bis zu 20 Meter hoch werden kann, ursprünglich aus China kommt, wo auch die Herstellung von Seide ihren Anfang nahm. Maulbeerbäume sind allerdings schon seit römischer Zeit auch im Mittelmeerraum nachgewiesen.
Weiße und schwarze Maulbeeren
Morus alba, die Weiße Maulbeere, ähnelt entfernt der Himbeere. Sie hat allerdings einen kurzen Stengel, der sich nicht von der Frucht lösen lässt. Sie schmecken süß, aber nicht sehr ausdrucksvoll. Die meisten Sorten sind weiß, die Früchte können allerdings auch leicht rosa, blasslila und sogar schwarz sein, was ziemlich verwirrend ist, da es außerdem die leicht säuerlichen Schwarzen Maulbeeren (morus nigra) gibt. Die Heimat von morus nigra ist Vorderasien, die Blätter sind an der Unterseite von feinen Härchen bedeckt und eignen sich nicht als Nahrung für Seidenraupen. Ein weiterer Unterschied zu morus alba ist der fehlende Stengel: die Früchte wachsen direkt am Ast. Während die weißen Maulbeeren in der Türkei – je nach den klimatischen Bedingungen – zwischen Mitte Mai und Mitte Juli geerntet werden, sind die schwarzen Maulbeeren echte Sommerfrüchte, die noch bis Ende August stetig nachreifen. Ihr Geschmack ähnelt dem von Brombeeren, aber sie sind noch saftiger und extrem farb- und geschmacksintensiv. Wer einmal frische schwarze Maulbeeren gegessen hat, vergisst das Aroma sein Leben lang nicht!
Superfood
Während morus alba auch in Mitteleuropa gedeiht, bevorzugt morus nigra das mildere Mittelmeerklima. Vielleicht ist das der Grund, warum es im deutschsprachigen Raum so gut wie keine Literatur über die Heilkräfte von morus nigra gibt, während sie in der Türkei einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. So gilt Sirup aus schwarzen Maulbeeren als die beste Arznei gegen Aften und andere Wunden im Mund- und Rachenraum. Bei Erkältungen und Halsentzündungen findet der Sirup Verwendung und hat allgemein entzündungshemmende Wirkung. Er ist reich an Vitamin C, Kalium und Eisen, gilt als blutzuckersenkend und stoffwechselanregend. Wegen des hohen Anteils an bioaktiven Anthocyanen (lila Farbstoff) wird er auch als Heilmittel bei Krebserkrankungen, besonders Hautkrebs, angewendet.
Man kann nur rätseln, warum die schwarze Maulbeere trotz ihrer außerordentlichen Eigenschaften bisher noch nicht in großem Stil angebaut wird. Ein Grund mag die aufwendige Ernte sein: Abpflücken lassen sich die saftigen Beeren nur kurz vor der Vollreife (dem Moment, an dem sie von allein herunterfallen), weshalb jeder Baum zwar täglich, dafür aber nur kleine Mengen liefert.
Der Saft der Früchte färbt Hände und Kleidung so intensiv, dass sie in manchen Gegenden der Türkei auch “Blutmaulbeeren” genannt werden. Kein Wunder, dass Sirup aus schwarzen Maulbeeren im Verhältnis zu weißem Maulbeersirup ein Vermögen kostet – etwa das Zehnfache.
Aber auch weiße Maulbeeren zählen zu den “Powerfrüchten”, besonders wegen ihres im Trockenzustand hohen Eiweißgehalts, was sie bei Sportlern, Vegetariern und Veganen sehr beliebt macht. Getrocknete Maulbeeren sind auch eine optimale Zutat fürs Müsli.
Kadir Dursuns Social Responsibility
Zurück nach Tut und zu Kadir Dursuns Maulbeergarten: Im Gespräch darüber, was ihn eigentlich antreibt, erzählt Kadir mir von seiner Mission: Er hat sich zum Ziel gesetzt, dass jede Familie in Tut durch die Maulbeeren ein Jahreseinkommen von mindestens 50.000 TL generieren kann – womit sie bereits erheblich über dem türkischen Mindestgehalt liegen würde. Er ist stolz darauf, in dreizehn Jahren unermüdlichen Engagements für die Maulbeerprodukte dieses Ziel zu 90% erreicht zu haben.